der Namensgeber

Alfred Kerr
* 25. Dezember 1867 in Breslau / + 12. Oktober 1948 in Hamburg
Schriftsteller, Theaterkritiker und Journalist

„Kerr, wie Kerr – Ein Berliner vor 125 Jahren in Breslau geboren“
von Günther Rühle

Alfred Kerr ist eine dauerhafte Legende. Nicht nur in Berlin, wohin er, noch nicht zwanzig, aus Breslau auswanderte, in ein Lebensabenteuer sondergleichen. Keiner, der je in Deutschland Theaterkritiken schrieb, hat solche Wirkung gehabt wie er.
Er war der kleine, strenge Mann mit den hochgeschlossenen Krägen, dem hohen, scharfen Gesicht, dem maliziösen Lächeln, der virtuose Sprachbeherrscher, der lästernde Spaßmacher, der schneidende Literatur-Richter, der Schauspielchirurg, der abends im Theater seinen Parkettauftritt hatte und mittags danach den zweiten als Rezensent, erst im „Tag“, dann – von 1919 ab bis zum wahrlich letzten Tag der Weimarer Republik – im „Berliner Tageblatt“. Er war ein Kämpfer gegen Verquollenes, Verlogenes, gegen Gefühlsschinderei und Kunststaffagen, aber auch ein Entdecker und Förderer. Ein Lob von ihm zählte nicht nur in Berlin.
Im Ganzen: er war ein unbürgerlicher Bürger, herkommend aus den Büchern August Bebels und den sozialen Impulsen von 1890 führte er immer die Menschen- und Gesellschaftskunst von Henrik Ibsen und Gerhart Hauptmann und das Theater von Brahms als Maßstab mit sich. Er war kein Konservativer, sondern ein Zeitgeist mit hohem Anspruch, als wäre er schon im Kaiserreich für die Republik erfunden. Der Patriot von einst focht für sie gegen alle ihre Verleumder. Das Freundschaftsbuch zum Gedenken an Walter Rathenau ist nur ein, aber sehr bewegendes Zeugnis

Alfred Kerr kam nicht nur wegen seiner jüdischen Abkunft 1933 auf die erste Proskriptionsliste von Goebbels. Er war einer der bestgehassten Intellektuellen aus der Weimarer Republik. Er focht mit seiner scharfen Zunge und seinem Verse ausschüttenden Dichterkopf gegen die kommende Diktatur des Hausknechts mit gesprochenen und gedruckten Wort.

„Deutschland verrottet und verroht
Die Luft von Giften schwül und schwer.
Das Blutrecht herrscht. Dem Erdball droht
Der dunklen Urzeit Wiederkehr:
Man schärft das Beil zum großen Streich
Im Dritten Troglodytenreich:
Schon stelzt vor ,Staffeln’ und ,Standarten’
Der Mordbandit, der braune Wicht;
Die andern flüstern, wägen, warten,
Und rührn sich nicht“.

Das mußte man wagen können. Als er Fünfzig wurde, rühmte er in seinem Lebensrückblick die Berliner Zeit: „wohne…seit über zwanzig Jahren im Grunewald. Ich habe genaue Tagebücher über die ersten fünf Jahre Berlin geführt…Hauptmann, Brahm, die Sorma … Dann kam die Duse nach Berlin. Sie gab mir ein neues Gewissen. Universität Berlin … Ibsen; Freie Bühne; Kampf; Sinnlichkeiten; Entlarvung bestochener Musikkritiker; Reisen … zuletzt Besitzer des ,Pan‘“. Ein Leben voll von Erlebnis, trunken und süchtig nach den Schönheiten der Welt, in die er immer wieder ausbrach. (Seine Reisebücher zeugen davon).

Was gab er damals und bis zuletzt als sein Lebenswerk? „Ich glaube, daß die Sprache meine Sendung hienieden war: zugunsten Deutschlands … Ich habe den bloß auf lutherisch kennengelernten Stil des Alten Testaments verpreußt.
Die Grammatik befreit. Die Kastelei gemordet. Die Limpidezza gehöht. War bloß’ Kritik mein Gebiet? Die Sprache war es. (Obschon meine Kritik…Genug)“.Gegen das langsätzige Bildungsdeutsch hat er zeitlebens gekämpft. 1927, zum Fünfzigsten notierte er: „Ich erfuhr nach dem fünfzigsten Jahr meine höchste Glückszeit … Man soll das Schicksal nicht necken; aber ich habe mein Teil dahin“.
Er sprach damals von „Täuschungsglück“ und behielt recht. Als er im Exil das Kapitel „Die völkische Verwesung“ schrieb, begann er, sich der Flucht aus Berlin erinnernd: „Hitler: das ist der Mob, der Nietzsche gelesen hat … Dies denkend lag ich im Grunewald mit Grippe zu Bett. Ein Telefonruf teilte mit: der Pass wird mir entzogen. Trotz 39 Grad Fieber raus aus dem Bett, nur einen Rucksack über, mit dem Allernötigsten. Nach dreieinhalb Stunden war ich in der Tschechoslowakei. Ich empfand an diesem Abend das tiefe Glück, jenseits der deutschen Grenze zu sein…“ Wie sich das liest, war es so und auch nicht so. Gerettet, aber alles verloren, was er sich geschaffen, womit und worin er gelebt hatte.

In den Jahren im Pariser und Londoner Exil, von wo er bis in die Flugblätter für Deutschland hinein sich weiter gegen Hitler rüstete, blieb immer die Frage: wie anders schreiben als in der Sprache, die seine deutsche Sache war. Was ihm im Exil blieb, kann man lesen in seinen Feuilletons „Ich kam nach England“ und in dem jetzt zum erstenmal gedruckten, nachgelassenen Roman „Der Dichter und die Meerschweinchen“ . Es ist ein Dialog mit sich selbst, ein Stück aus der Einsamkeit und Verlassenheit im Exil, lange misskannt und doch ein wichtiges Buch aus der deutschen Literatur im Exil, weil es die geistige Not des einst berühmten Mannes so anschaulich macht.. Den siebzigsten verbrachte Alfred Kerr schon im Londoner Exil.
Ihm blieb eine Sehnsucht nach Berlin, in das er aus allen Reisen in die Welt immer wieder zurückgekehrt war
.
Kerr war ein Zeitschnüffler, ein Schönheitsmensch, ein Erlebnisträchtiger, ein ins Leben Verliebter. Aus seinen Büchern kann man noch Leben lernen. Seine Lebensmelodie hieß „Es sei wie es wolle, es war doch so schön“ und „Mich wundert, daß ich so fröhlich bin“. Er starb in Hamburg, als er im Jahr 1947 nach Deutschland prüfend zurückkam. Dort ist er begraben und sein „Testament eines Berliners“ ist unerfüllt.

„Dann begrabt mich armen Pinsel,
Kleingestäubt in Uratome,
Unweit von der Pfaueninsel
Hart am holden Havelstrome.
Sonntags, wenn sich heiß umschlingen
Fritze, Kläre, Max, Adele,
Und die kleinen Mädchen singen,–
Freut sich meine arme Seele“.

Kein Kritiker hat in den letzten hundert Jahren mehr erreicht als er. Wer heute in seinen Büchern liest, erfährt im Genuss seiner Sätze, wofür er immer, unterm Gelächter der Unverständigen, focht: daß Kritik zur Kunst wird, durch die Kraft der Sprache, der Unterscheidung, des Witzes und der Phantasie. Er demonstrierte noch einmal eine hohe Spielart der romantischen Poesie und kam zu einem bis heute nicht veralteten Deutsch, knapp, lucide, treffend.

Die neue Sammlung seiner Schriften
, die im S. Fischer Verlag erscheint, herausgegeben von Günther Rühle und Hermann Haarmann, aber auch die von Günther Rühle entdeckten Briefe aus der Reichshauptstadt „(Wo liegt Berlin?“ und „Warum fließt der Rhein nicht durch Berlin?“) geben noch immer das beste Zeugnis ab, was Alfred Kerr einmal war: Ein forcierter kritischer Geist, dem die Freude, auf der Welt zu sein, ihre Schönheiten zu entdecken, nicht die Lust erdrückte, kritisch das Gute von Schlechten, die Wahrheit von der Lüge, die Lebensförderer von den Lebens- und Weltverhunzern zu trennen.

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LEBENSDATEN

1867
Am 25. Dezember wird Alfred Kerr in Breslau geboren. Sein Vater ist der jüdische Weinhändler Emanuel Kempner.

1887
Erste journalistische Arbeiten werden veröffentlicht.

1891
Kerr studiert in Berlin bei dem Wilhelm-Scherer-Schüler Erich Schmidt Germanistik und Philosophie.

1893-1900
Beginn der Tätigkeit als Theaterkritiker.
Kerr schreibt für das „Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes“, die „Neue Rundschau“ und die Breslauer Zeitung.

1894
Abschluss des Studiums in Halle, Promotion zum Dr. phil.; Italienreise.

1895
Beginn der Tätigkeit als Theaterkritiker in Berlin.

1893-1900
Beginn der Tätigkeit als Theaterkritiker.
Kerr schreibt für das „Magazin für die Litteratur des In- und Auslandes“, die „Neue Rundschau“ und die Breslauer Zeitung.

1894
Abschluss des Studiums in Halle, Promotio zum Dr. phil.; Italienreise.

1895
Beginn der Tätigkeit als Theaterkritiker in Berlin.

1896
Reise zum Sozialistischen Weltkongreß nach London.

1897-1922
Berliner Plauderbriefe für die „Königsberger Allgemeine Zeitung“.

1898
Veröffentlichung der Dissertation über eine Jugenddichtung Clemens Brentanos („Godwi. Ein Kapitel deutscher Romantik”).

1901-1919
Arbeit als Theaterkritiker für den Berliner „Tag”.

1909
Die schon verwendete Namensänderung von Kempner in Kerr wird am 27. Oktober offiziell bestätigt.

1910-1915
Zunächst zusammen mit Paul Cassirer, ab 1912 allein, gibt Alfred Kerr die Kunst- und Literaturzeitschrift „Pan” heraus.

1917
Die erste Reihe von Kerrs „Gesammelten Schriften”, „Die Welt im Drama”, erscheint in fünf Bänden.
Publikation des Gedichtbandes „Die Harfe”.

1918
Heirat mit Inge Thormählen, die drei Monate später an der Spanischen Grippe stirbt – Kerr genas wie durch ein Wunder.

1919-1933
Theaterkritiken für das „Berliner Tageblatt”.

1920
Heirat mit Julia Weismann (21. April). Kerrs Reisefeuilletons erscheinen unter dem Titel „Die Welt im Licht“. (Zweite Reihe der „Gesammelten Schriften“).

1921
Geburt Michael (1. März)

1923
Geburt Judith (14. Juni)

1926
Veröffentlichung des Gedichtbands „Caprichos”.

1928
Zum 60. Geburtstag erscheint der Almanach „Für Alfred Kerr”, herausgegeben von Joseph Chapiro.

1929-1932
Alfred Kerr hält politische Vorträge für den Berliner Rundfunk, in denen er zur Bekämpfung der NSDAP aufruft.

1933
Am 15. Februar flieht Alfred Kerr mit seiner Familie aus Berlin.
Über Prag, Wien, Lugano und Zürich emigriert er nach Paris.
Im Mai werden bei den Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten auch Kerrs Werke namentlich genannt.
Er beginnt, bei mehreren Emigrantenzeitschriften und ausländischen Tageszeitungen mitzuarbeiten.

1935
Alfred Kerr geht ins Exil nach London.
Für BBC schreibt er politische Kommentare.

1938
Kerr ist Mitbegründer des Freien Deutschen Kulturbunds in London.

1939-1947
Alfred Kerr ist Präsident des Deutschen P.E.N.-Club.

1945
Arbeit für die deutschen Tageszeitungen „Die Welt” und „Die neue Zeitung”.

1947
Alfred Kerr nimmt die britische Staatsbürgerschaft an.
Mitarbeit für die „Neue Zeitung” in München.

1948
Alfred Kerr erleidet zu Beginn einer Vortragsreise durch Deutschland am 15. September in Hamburg einen Schlaganfall und nimmt sich am 12. Oktober das Leben.
Er wird in Hamburg-Ohlsdorf begraben.

1973
Judith Kerr, Alfred Kerrs Tochter, beschreibt in ihrem Buch „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl” die Jahre im Exil nach 1933.

1977
Der Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik wird vom „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel” gestiftet.

1989 ff.
Die von Hermann Haarmann und Günther Rühle herausgegebenen „Werke in Einzelbänden” Alfred Kerrs erscheinen.

1991-1994
Der Alfred-Kerr-Darstellerpreis wird verliehen.

Seit 1999
jährliche Verleihung des Alfred-Kerr-Darstellerpreises für den besten jungen Schauspieler oder die beste junge Schauspielerin aus den zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Inszenierungen. Auf Initiative von Judith Kerr und ihrem Bruder Michael Kerr, wird die Alfred-Kerr-Stiftung gegründet, in die die Erlöse der von Günther Rühle herausgegebenen Kerr-Aufsatzsammlung „Wo liegt Berlin” fließen. Seither verleiht die Stiftung in Zusammenarbeit mit dem „Tagesspiegel”, alljährlich am letzten Tag des Berliner Theatertreffens im Mai den Alfred-Kerr-Darstellerpreis.

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TONAUFNAHMEN

Originalton Alfred Kerr: „Aus der Hitlerzeit” vom 13. Juni 1947

Originalton Alfred Kerr: „Auswanderergespräch” vom 13. Juni 1947

Originalton Alfred Kerr: „An meine kleine Puppi” vom 13. Juni 1947

„Du musst glücklich werden”
von Renée Zucker, Berliner Tagesspiegel, 11.02.2000

Posy öffnet nur eines ihrer schönen, grünbraunen Augen und streckt zur Begrüßung gelangweilt gähnend die Zunge raus. Frei nach Robert Gernhardts „Von Katzen lernen, heißt liegen lernen” bleibt sie auf dem bequemsten Sessel im Wohnzimmer liegen, und das erfüllt sowohl Tom Kneale als auch seine Frau Judith Kerr mit offensichtlichem Stolz.
Die fünfzehnjährige Posy ist die letzte, die Mr. Kneale und Mrs. Kerr von all ihren Katzen geblieben ist. Als sie noch jung war, spielte sie oft nächtelang auf dem gegenüberliegenden Feld mit ihren Geschwistern, später mit ihren Jungen und mit ein paar der dort ansässigen Füchse. Heute spaziert sie manchmal für ein Stündchen am Feldrand entlang, aber nur, wenn ihr Tom oder Judith vorher in der Küche die Katzenklappe aufgehalten haben.

Der Londoner Vorort Barnes, in dem Posy, Mr. Kneale und Mrs. Kneale-Kerr wohnen, liegt mit der U-Bahn etwa 40 Minuten vom Londoner Zentrum entfernt. Die Straßen mit den engen, kleinen Häuschen ohne Gardinen vor den Fenstern sehen so aus, als seien hier immer Ferien, als würde sich hier, zumindest in den Wintermonaten, jeden Abend aufs Neue Santa Claus durch den Kamin quetschen. Unglaublich friedlich. So friedlich, freundlich und gleichzeitig angenehm distanziert wie die Atmosphäre, die den Besucher im Wohnzimmer der Kneale-Kerrs empfängt. Von Posy mittlerweile unter beiden halb geöffneten Lidern hervor beobachtet, gruppiert man sich um den Couchtisch. Tom, wie um nicht zu stören, etwas zurückgesetzt, schaut offen aus großen, blauen Augen in die Runde, während seine Frau das erste ihrer 200 geschriebenen und gemalten Bilderbücher zeigt. Es erzählt von einem Tiger, der eines Tages bei einer Familie zum Tee hereinschneit. Anfangs freuen sich alle über den seltenen Besuch, aber als er dann den ganzen Kühlschrank leerfrisst, freuen sie sich auch, dass er wieder geht.

Eine Geschichte, so unsentimental, liebenswürdig und komisch, wie fast alle Bücher, die die Tochter des Berliner Theaterkritikers Alfred Kerr bis heute jeden Tag bis zur Dämmerung malt und schreibt. Eine Geschichte, so feinsinnig wie ihr Lächeln, in dem kein Werben um Sympathie liegt, eher eine ironische Aufforderung zum Dialog; eine unangreifbare Aura von natürlicher Eleganz und Würde, und dazu ein verblüffender Spaß an den Tücken der Realität. So viel in einem einzigen Lächeln.

Plötzlich scheint dieses Wohnzimmer eine ganz andere, eine schon längst vergangene und doch noch immer flirrende, literarische Welt zu sein. Da sind ein Deutschland, eine Kultur und ein Mann gegenwärtig, die schon lange nicht mehr sind, und da ist diese zierliche, elegante Dame mit der ordentlichen Frisur, die man sich einerseits kaum ohne ihren Vater – oder ihren Mann vorstellen kann, und die dennoch etwas unglaublich eigenständig Klares und Bestimmendes verkörpert.
Judiths Vater wäre stolz auf sie, wenn er sie sehen könnte. Für Töchter ist das sehr wichtig, auch wenn sie schon 76 Jahre alt sind und ihr Vater schon lange nicht mehr lebt. Anwesend ist er ohnehin. Für Judith immer gewesen, für ihren zwei Jahre älteren Mann Tom ebenfalls, schon über die Hälfte seines Lebens, und für jeden Besucher aus Deutschland sowieso.
„Mein Vater glaubte immer, dass ich Talent habe. Insofern wäre er gar nicht überrascht von meinem Erfolg . Meine Mutter dagegen wäre sehr erstaunt, wenn sie mich heute sähe. Sie war sich über meine Begabungen nie so sicher”. Judith Kerr sieht keine Spur traurig aus, wenn sie über die Skepsis ihrer Mutter spricht. Überhaupt scheint sie eine Art lebender Widerspruch zu allen Theorien der Familienpsychologie zu sein. Angeblich ist es nämlich nicht so einfach, einen berühmten Vater zu haben, der dazu noch dreißig Jahre älter als die Mutter war. Als Judith zwei Jahre nach ihrem Bruder Michael geboren wurde, war Kerr schon sechsundfünfzig Jahre alt.

Sicherlich hatte er ihr eine andere Kindheit gewünscht als die, die Judith vier Jahrzehnte später in ihrem Buch „When Hitler Stole Pink Rabbit” beschrieb. 1973, zwei Jahre nach der Veröffentlichung in England, wurde „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl”, der erste von drei Romanen über die Emigration der Familie Kerr, in Deutschland auf Anhieb ein Bestseller, dann ein Longseller. Seit nahezu dreißig Jahren ist es für die meisten der acht- bis 13jährigen deutschen Kinder einer der ersten literarischen Kontakte mit einer Zeit, die nur noch ihre Großeltern miterlebt haben.
Judith Kerr selbst empfindet überhaupt nicht, dass sie eine „schwere Kindheit” gehabt habe – „ganz im Gegenteil”, sagt sie und lacht so unternehmungslustig wie ein junges Mädchen, in der Erinnerung an die aufregende und wunderbare Zeit in Paris, wo sie als Neun- bis Elfjährige lebte, und wo sie sich bis heute zuhause fühlt. Viel mehr als in Deutschland, aber natürlich nicht so sehr wie in England. Zu Deutschland scheint sie wenig Gefühl zu hegen. Zumindest kein leidenschaftliches. Der neue Bundespräsident hatte ihr neulich gefallen. Johannes Rau hatte zum Erscheinen des Jugendbuches „Holocaust” von Barbara Rogasky nicht nur die amerikanische Autorin und 200 Berliner Schüler, sondern auch Judith Kerr zum Gespräch eingeladen. Und die war ungemein beeindruckt, dass sich der deutsche Politiker tatsächlich Zeit genommen und echtes Interesse an den Gesprächen mit Erwachsenen und Jugendlichen bekundet hatte. „Ich weiß nicht, ob es das in England geben könnte”, sagt sie nachdenklich.
„Mit Tony Blair sicherlich nicht”.

Natürlich fühlt sie sich als Engländerin und nicht als Deutsche. „Die Engländer haben schließlich mein Leben gerettet, das werde ich ihnen niemals vergessen. Ich habe sie schrecklich gern. Schon allein, weil sie so unglaublich tolerant sind,“ sagt Judith voller Emphase, „ wenn man bedenkt, dass meine Eltern, die einen sehr starken, deutschen Akzent hatten, mit ihnen in den Bombennächten zusammen in London im Bunker saßen, dass nicht ein einziges Mal auch nur irgendjemand ein böses Wort zu ihnen gesagt hat! Selbst mein Vater, der eigentlich viel lieber in Frankreich als in England gelebt hätte, weil ihm das Französische mehr lag, meinte einmal nach dem Krieg auf die Frage, ob er denn nun England wieder verlassen werde: „Aber nur, wenn ich alle Engländer mitnehmen könnte”.

Kein Zweifel, Judith Kerr ist von ganzem, heißem Herzen Britin, auch wenn ihr Deutsch nahezu akzentfrei ist. „Ach nein” winkt sie ab, „ ich habe ja den deutschen Sprachschatz eines neunjährigen Kindes. Das habe ich dann als junge Erwachsene im Gespräch mit meinem Vater gemerkt. Er verstand manchmal ein englisches Wort nicht, dessen deutsche Bedeutung ich wiederum nicht kannte. Dann mussten wir oft lange suchen, aber irgendwie haben wir uns am Ende immer verstanden.”
Tom wirft ein, manchmal sei Judith englischer als er selbst. Dass allerdings ist vielleicht auch kein Wunder, denn Tom ist etwas ganz Besonderes, kein Engländer und kein Ire, sondern ein „Manx”, ein Bauernsohn von der Isle of Man, also ein Nachkomme der Ureinwohner des United Kingdom, ein Kelte. Früher waren die „Manx” die wildesten und schlauesten Schmuggler in der Irischen See, heute gehören sie zu den wohlhabendsten Unabhängigen im Inselreich, weil sich viele Banken in dem Steuerparadies mit eigenem Parlament niedergelassen haben. Außerdem soll es dort Katzen ohne Schwänze geben.

Abgesehen davon, dass er ein Manx ist, ist Tom überhaupt etwas Besonderes, aber das merkt man erst nach einer Weile, weil er sich so unauffällig im Hintergrund hält. Mit seiner Frau ist er immer im Kontakt, sogar, wenn sie sich nicht anschauen, was aber selten der Fall ist. Ihm entgeht nichts von dem, was Judith belustigt, erfreut oder irritiert, und umgekehrt. Es ist, als erzählten sie sich ständig etwas, ob mit oder ohne Worte, und meistens wirken sie wie zwei, die sich in einer Geheimsprache über die Welt lustig machen. Dazu trägt sie immer dieses leicht mokante Lächeln, während er ganz unschuldig dreinschaut. Wir wissen etwas, was sonst keiner weiß. Dabei schließen sie die Welt nicht aus, vielmehr wird sie mit freundlichem Lächeln eingeladen und ebenso freundlich wieder verabschiedet.

Vor 48 Jahren hatten sich der Drehbuchautor und die damalige Kunstdozentin in der Kantine der BBC-Studios kennengelernt. Ihr erstes Rendezvous führte sie ins Theater. Natürlich. „Die Schauspieler waren unglaublich mies und das Stück von abscheulich dick aufgetragenem Symbolismus”, lächelt Judith Kerr, „wir haben uns als einzige gebogen vor Lachen und damit begann unsere Liebe”. Dieser Beginn einer erfolgreichen Ehe entspricht durchaus der These des deutschen Paarspezialisten Klaus Theweleit, wonach eine dauerhafte Verbindung zwischen Liebenden nur dann funktioniert, wenn diese die gleiche Musik, Literatur oder wenigstens die gleichen Filme mögen.
Judith und Tom gehen gerne und oft ins Kino. Ihre letzten Lieblingsfilme waren David Lynchs „The straight story” und „The sixth Sense”, „mit einem phantastischen Bruce Willis, der ganz anders ist als sonst. Schon in „Pulp Fiction” war er besser, aber hier ist er jetzt richtig gut”! Wer würde schon eine sechsundsiebzigjährige Dame und einen nahezu achtzigjährigen Herrn in den Trashfilm von Tarrantino oder in die Geschichte eines toten Psychotherapeuten, der nicht weiß, dass er tot ist, schicken? Aber Tom hat ähnliche „Ghoststories” im eigenen Repertoire, sagt Judith. Im März wird ihm im Londoner National Film Theatre eine Retrospektive gewidmet. Sie erzählt es voller Stolz. Selbstverständlich sprechen sie über alles miteinander, was sie produzieren; kritisieren und ermutigen einander. „Das Kaninchen wäre nie ohne Toms Drängen entstanden”.

Vor Tom hatte Judith auch einmal einen jungen Kommunisten getroffen. Er nahm sie mit zu einer Versammlung. Dort rezensierte ein Mann ein Buch. „Was heißt, er rezensierte – er verriss das Buch. Er verriss es, weil er ein Eisenbahnarbeiter war und das Buch nicht von einem Eisenbahnarbeiter handelte oder von dem, was einen Eisenbahnarbeiter interessiert”. Judith wurde übel und sie verließ den Raum. „Sobald ich draußen stand, ging es mir wieder besser und ich wusste, dass ich keine Kommunistin werden wollte und dieses arme, geschmähte Buch wahrscheinlich mögen würde.“
Sowieso hatte ihr der Vater seinerzeit geraten, einen Iren zu heiraten. Vielleicht, weil sie nicht so domestiziert wie die Engländer sind und es jeder entschuldigt hätte, wenn der Schwiegervater kein Irisch verstünde?

Wo immer wir sind, über was wir auch sprechen, Alfred Kerr ist dabei. „Für meinen Vater war es in England leichter als für meine Mutter, weil er sein Leben schon sehr befriedigend gelebt hatte, als wir emigrieren mussten. Sie dagegen war gerade an dem Punkt, wo die Welt noch vor einem liegt. Sie hatte so viele Talente, zum Beispiel schrieben meine Eltern Opern zusammen – sie die Musik, er das Libretto.” Eine Oper erzählt, wie Einstein eine Zeitmaschine erfindet, auf Lord Byron trifft und ihn mit in seine Zeit nimmt. „Es ging natürlich alles schief mit Byron in einer anderen Zeit, er konnte sich überhaupt nicht an die veränderten, emanzipierten Frauen gewöhnen”, erinnert sich Judith, „und meine Eltern hatten viel Spaß beim Entwickeln der Geschichte”. Judith holt das Foto einer wunderschönen, jungen Frau von Anfang Zwanzig. Julia Weissmann, verheiratete Kerr, steht in einem weißen Kleid mit schwingendem Rock vor einem Palazzo in Venedig. Erwartungsvoll, verliebt und sehr glücklich schaut sie in die Kamera. Es muss auf der Italienreise aufgenommen worden sein, die sie 1920, im Jahr ihrer Heirat, unternahmen. Viele Jahre später, sie war sechsundfünfzig, so alt wie ihr Mann damals, als die kleine Judith geboren wurde, sollte sie in Berlin einen Selbstmordversuch überleben. Nach dem Tod Alfred Kerrs war sie dorthin zurückgekehrt und arbeitete für die Amerikaner.
.
Über das komplizierte Verhältnis zu ihrer Mutter
erzählt Judith in ihrem dritten und bislang letzten Roman „Eine Art Familientreffen”. Darin beschreibt Judith sie als eine Frau, die immer kindlich geblieben ist. „Sie liebte es, Schüttelreime zu dichten, zum Beispiel: „Dass man den Abend schlecht verbringt, wenn man einen Brecht verschlingt”. Judith kann Brecht auch nicht leiden. Tom ebenfalls nicht. Sie lachen wie unartige Kinder. Warum hat Judith Kerr nach drei Romanen aufgehört, die Geschichte von Anna zu erzählen? Sie habe sich noch einmal an einem Roman versucht, sagt sie, dabei aber festgestellt, dass es nichts Drängendes zu sagen gab. Und eigentlich, fügt sie nach einer Pause hinzu, seien es Romane über Annas Eltern und nicht so sehr über Anna gewesen.
Tom geht in die Küche, kocht Fisch für Posy und erzählt der Katze dabei etwas. Posy bekommt jeden Tag etwas Frisches von Tom gekocht.

Wie haben die beiden es geschafft, dass sie so verspielt miteinander und so voller Achtung voreinander sind? Jetzt lächelt Judith nicht mit diesem Hauch von Spott. Eine kleine Röte huscht über ihr Gesicht. „Ich weiß nicht”, sagt sie fast hilflos,
„ich kenne Tom nun schon so lange, aber er überrascht mich immer wieder”. „Du mich aber auch”, ruft Tom sofort aus der Küche.
Dann holt er im örtlichen Ristorante für alle Pizza mit Spiegelei.

In seinem letzten Brief an Judith schrieb Alfred Kerr: „Du musst glücklich werden. Tu es.” Judith war ein braves Mädchen: sie wurde glücklich. Wahrscheinlich war es nicht nur der väterliche Befehl, wahrscheinlich war es die väterliche Natur. Es gibt wohl ein Gen für ein Talent zur Freude. Freude am Leben, an sich selbst, an dem was man tut, an denen, die man liebt.

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